Dieser Beitrag wurde am 23. Mai 2024 als Gastbeitrag in der Badischen Zeitung veröffentlicht.
Wir haben die Wahl. Das Volk hat die Wahl. Europa hat das Wort Demokratie in Athen vor rund 2500 Jahren erfunden. Bis heute kämpfen wir um sie. Die Herrschaft des Volkes – das ist die Übersetzung von Demokratie – löst Jubelrufe und offene Fragen aus.
Es gibt Unzufriedenheit. Wir stehen im vielfachen Wandel und sind verunsichert. Goldene Zeiten für Rattenfänger. Populismus grassiert am rechten und linken Rand des politischen Spektrums – weltweit. Populisten behaupten, sie würden die wahren Interessen des Volkes – lateinisch populus – vertreten und – kämen sie an die Macht – endlich für „Gerechtigkeit“ sorgen. Wir erleben zwei Ausprägungen. Der Rechtspopulismus schwadroniert von einem völkischen Deutschland, das den Deutschen gehöre. Der Linkspopulismus kennt Erlösungs-Ideologien und Königswege in eine paradiesisch gerechte Welt. Beide Strömungen kapern den Staatsapparat und seine Institutionen, denn Populisten sind autoritär und interventionistisch, pflegen Personenkult, haben festgefügte Feindbilder und wissen ohnehin besser als das Volk, was das Volk will. Sie haben ein taktisches Verhältnis zur Demokratie, die sie ja für nichts brauchen. Fallen wir nicht auf ihre altbackenen Schnittmuster rein.
Machen wir uns lieber klar: Demokratie ist nicht nur eine Staatsform, sondern vor allem eine Verpflichtung und bedeutet, dass ein Staatsvolk sich schrittweise seinen eigenen Weg in eine grundsätzlich offene Zukunft bahnen muss. Wir, das Volk, sind nicht etwa „am Drücker“, sondern vielmehr in der Pflicht. Wir müssen eben keinem Demagogen oder Ideologen hinterherlaufen, sondern dürfen und müssen selbst Verantwortung übernehmen. Das Wahlrecht ist für überzeugte Demokraten Pflicht.
Am 23. Mai wird unser Grundgesetz 75 Jahre alt. Heute sind die universellen Werte des Grundgesetzes in der Bevölkerung breit akzeptiert. Politologen sprechen vom berühmten bundesrepublikanischen „Verfassungspatriotismus“. Kein diffuses Germanentum, keine Hautfarbe, keine Religion, keine gekrönten Häupter, keine Staatspartei, keine Ideologie, keine „Bockwurst mit Sauerkraut“ vereint uns, sondern „patriotisch“ ist, wer mit den Werten des Grundgesetzes in Einklang lebt. Und jeden anderen akzeptiert, der dies auch tut. Was nüchtern klingt, ist topmodern, wie Bundespräsident Frank-Walter Steinmeier in einem FAZ-Essay schreibt. Ein „leiser Patriotismus“ sei gefordert, der die unterschiedlichsten Individuen verbindet. Nur so habe man als demokratischer Staat die Möglichkeit „wir“ zu sagen.
Unsere Demokratie setzt sich dafür ein, dass die Würde eines jeden Menschen unantastbar sei. Dass jeder seine Persönlichkeit entfalten möge und keiner wegen Geschlecht, Abstammung, Herkunft, Glaube, sexueller Identität oder Behinderung benachteiligt werde. Vielfalt steht wörtlich im Grundgesetz. Ganz vorne. Wer unsere Nationalfahne schwenkt oder unsere Nationalhymne singt, tut dies im Namen von Vielfalt in Einheit, sonst segelt er unter falscher Flagge. Das Grundgesetz schließt niemanden aus, es privilegiert auch keine Gruppe und kein Individuum. Jeder und jede wird am eigenen Beitrag zum Gemeinwesen gemessen.
In den meisten Unternehmen, Organisationen, Schulen und Hochschulen arbeiten Menschen aus der ganzen Welt friedlich zusammen. Oft bestehen die Belegschaften in der Industrie zu einem Drittel oder mehr aus Menschen mit Migrationshintergrund, die gute Kolleginnen und Kollegen sind und sich in Deutschland eine Existenz aufbauen wollen oder längst aufgebaut haben. Wir brauchen diese Menschen – mit ihrem gelebten Verfassungspatriotismus -, um gemeinsam erfolgreich zu sein.
Eine gute Demokratie braucht vor allem gute Demokraten. Und Demokratie ist viel mehr als manchmal modisch gefärbte Diversity. Eine gute Demokratie baut auf Menschen, die respektvoll mit anderen Menschen gute Lösungen für eine gemeinsame offene Zukunft suchen. Die klar in der Sache und fair im Ton sind. Die nicht nur lautstark fromme Dinge von andern fordern, sondern vielmehr selbst geben. Die erklären, die (sich) integrieren, die für Ideen werben, die nicht belehren, nicht moralisch ausgrenzen oder drohen, die nicht bei jedem Thema in eine 5-vor-12-Rhetorik verfallen, die jedem Diskurs schadet. In diesem Sinne sollten, ja, müssen wir auch unsere Regierung und auch Europa immer wieder kritisieren. Politik wird ja – weiß Gott – niemals alles für alle richtig machen können. Nur Ideologien wollen unfehlbar sein. Man kann demokratische Tugenden im Arbeitsleben lernen und sollte sie täglich auch in der Familie praktizieren. Demokraten haben jeden Tag eine Stimme und die Wahl, nicht nur an der wichtigen Wahlurne. Übrigens: Mit unserer Form der Demokratie haben wir in den letzten 75 Jahren viel mehr erreicht als mit allen anderen Staatsformen zuvor.
Was eine gute Demokratie also nicht braucht, sind plumpe Populisten, die andere Menschen mit Parolen oder Ideologien gegeneinander ausspielen wollen, die Hass schüren, Stimmung machen, zündeln, Schuldige suchen statt Lösungen für alle. Gute Demokraten und Verfassungspatrioten sind solche Menschen nämlich nicht.
Bert Sutter Dr. Christoph Münzer
Präsident Hauptgeschäftsführer